Dienstag, 12. Januar 2016

In Witzenhausen popt es up

Tante Erma, der Ideenladen

Auf den ersten Blick ist Tante Erma einfach ein Laden in der Ermschwerder Straße. Im Erdgeschoss eines Fachwerkhauses, klein, überschaubar und erfreulicherweise nicht leerstehend, wie so viele Geschäfte in dieser Ecke der Kirschenstadt. Hier, zwischen „Stadtring“ und Marktplatz präsentiert sich die ländliche Universitätsstadt ein wenig morbide, ein scheinbar unvorteilhafter Standort für einen Laden. Aber Tante Erma ist ein sogenannter Pop- up-Store. Dahinter verbirgt sich ein Marketingkonzept, dass seinen Ursprung in Amerika hat und seit rund einem Jahrzehnt auch in den großen Städten Deutschlands Fuß gefasst hat. Thomas Welzel, Architekt und Eigentümer des 150 Jahre alten Fachwerkhauses in dem sich die Ladenfläche befindet, hat nun das sogenannte „Guerilla-Marketing“ mit einem an das Potenzial Witzenhausens angepassten Konzept im Tante Erma Laden umgesetzt. Und dafür ist der etwas heruntergekommene Teil der Ermschwerder Straße genau der richtige Ort.


Das Prinzip eines Pop-up-Stores ist einfach. Wer eine Geschäftsidee hat, ein bestimmtes Sortiment vertreiben,  sein Hobby, seine Kunst oder ein besonderes Projekt präsentieren möchte, kann den Laden für eine begrenzte Zeit mieten. Bei Tante Erma sind das zwischen einer Woche und drei Monaten. Günstige Preise, kein kompliziertes Vertragswerk mit Kündigungsfristen und Klauseln. Einfach rein in den mit flexiblen Regalen, Licht und Werbemöglichkeiten professionell ausgestatteten 35 qm Laden, Idee oder Produkte vorstellen und nach festgesetzter Zeit  wieder raus. Das Ergebnis für den Mieter: Ein Markttest unter realen Bedingungen oder einfach ein optimaler Verkaufserfolg.
Für Thomas Welzel bedeutet das Tante Erma Projekt wesentlich mehr als nur die Möglichkeit, mit dem ansonsten leerstehenden Ladenlokal im Haus, das mitten in der Sanierung steckt, ein paar Euro zu erwirtschaften. Denn der Architekt und Ladenbauer aus Braunschweig, der Witzenhausen vor rund elf Jahren ganz bewusst zu seiner Wahlheimat gemacht hat, sieht auch das Entwicklungspotenzial hinsichtlich Lebensqualität, Wirtschaftskraft und touristischer Attraktivität in Witzenhausen, das mit guten Ideen und intelligenter - auch sozialer - Vernetzung aktiviert werden kann.

Locations für Besonderes

Die Idee des Pop-up-Stores entstand Ende der 1990er Jahre als vor allem Klamottenlabels ihre Waren im Rahmen von Events in Los Angeles, New York oder San Franzisco für wenige Tage oder Wochen in kurzfristig angemieteten Läden an ausgefallenen Orten vertrieben. Durch die Kurzfristigkeit des Angebots und geschickt gesteuertes Marketing mit gezielter Mund zu Mund Propaganda wurden die Pop-up-Store zu Geheimtipps. Schneller profitabler Warenabsatz und ein enormer Imagegewinn bei überschaubaren Kosten sind das Ergebnis dieses Event-Marketing-Konzeptes. Kein Wunder, dass es inzwischen international agierende Event-Agenturen gibt, die sich auf die Pop-up-Vermarktung spezialisiert haben. Das beginnt mit der Auswahl des Ladens, seiner Einrichtung geht über die Produktpräsentation, die Event-Organisation (Party, Musik, Aufführungen, Catering etc.) bis hin zum Marketingkonzept. Alles aus einer Hand. Besonders wichtig dabei: die Auswahl des Standortes. Heruntergekommene Stadtviertel mit hohem Ladenleerstand sorgen nicht nur für niedrige Mietkosten, sondern auch für ein ungewöhnliches Ambiente. Vor allem große Labels sind hier die gern gesehenen Kunden.

Tante Erma auf Witzenhausen maßgeschneidert

Das Prinzip Pop-up-Store hat natürlich auch weniger edle Seiten. Allseits bekannt sind die zum Jahresende aufpoppenden Feuerwerksläden oder die kurzfristige Belegung leerstehender Läden für Billigschuhverkäufe etc. . Diese „Guerilla-Shops“, bei denen der schnelle Massenabsatz im Vordergrund steht, füllen bestenfalls die Kassen der Vermieter und der Verkäufer, verbessern die Attraktivität des betreffenden Stadtteils oder der jeweiligen Straße nicht unbedingt. Die hochwertiger aufgezogenen Pop-ups in heruntergekommenen Gegenden, können jedoch einen positiven Synergieeffekt haben. Leerstehende Läden werden auch für andere Pop-ups interessant, Gastronomie und exklusiver (damit ist nicht unbedingt hochpreisig gemeint!) Einzelhandel finden neue Kundschaft, die Attraktivität des Quartiers steigt, Kultur kehrt zurück oder entwickelt sich neu.
Tante Erma in der Ermschwerder Straße in Witzenhausen ist so ein Pop-up-Projekt mit Synergiepotenzial. Denn hier lässt sich vieles ausprobieren. Für Thomas Welzel ist Witzenhausen ohnehin ein großartiges Experimentierfeld. Hier, so der Architekt, sei vieles möglich, was woanders kaum oder nur mit großem Aufwand umsetzbar sei. Beispiele gibt es mit dem Weltladen des 1979 gegründeten Arbeitskreises Eine Welt e.V., dem Netzwerk Transition Witzenhausen oder der Teilnahme an der Kampagne Fair Trade Town und anderen genug. Keine Frage, vieles von dem, was sich in der Stadt bewegt, geht auf die Aktivitäten und Ideen der rührigen Studentenschaft der Landwirtschaftsuni, aufgeschlossener Bürger und Zugereister wie Welzel zurück, die zur  unvergleichlichen Atmosphäre der Stadt zwischen Traditionsbewusstsein, nordhessisch-ländlicher Beharrlichkeit, Innovationsbereitschaft und Experimentierfreudigkeit beitragen. Auch Tante Erma ist zunächst ein Experiment, das aber bereits seine Erfolge zu verzeichnen hat. Hans Spinn beispielsweise, der in Tante Erma seine Idee vom Umsonstladen ausprobiert hat, ist nun mit seinem Projekt der Brückenstraße zu finden.

Ein Konzept mit Entwicklungspotenzial

Gestartet ist  Tante Erma nach aufwändiger Renovierung im September 2014 im Rahmen des Witzenhäuser Kulturevents „TreppenKellerHinterhöfe“. Nora Barsch präsentierte hier ihre Kunstwerke der Witzenhäuser Öffentlichkeit. Nora Wagner, folgte mit einem Beratungsladen für Konflikte und Bauchgefühl und anschließend zeigte Petra Schemme-Bässe Schönes aus Niestetal. Den Socken- und Flohmarktladen der Familie Lorenz beherbergte Tante Erma ebenso wie  
den oben angesprochenen Hans Spinn, eine Fairtrade-Ausstellung oder das Stöberstübchen von Beate Ötzel. Energieberatung für Körper und Seele von Andrea Pape oder die gemeinsame Präsentation von fünf Näherinnen aus der Region mit ihren exklusiven Stücken rundeten bisher das Pop-up- Angebot im Laden in der Ermschwerder ab. Auch wenn es mit der Familie Lorenz und Petra Schemme-Bässe bereits 2015 Wiederholungstäter gab und die Witzenhäuser und die Gäste der Stadt auch 2016 bei Tante Erma die fünf Näherinnen und Beate Ötzel mit dem Stöberstübchen wieder treffen werden, die Möglichkeiten des Pop-up Lädchens sind noch längst nicht ausgereizt. Denn Witzenhausen braucht nach wie vor neue Ideen, um nicht nur Touristen anzuziehen, sondern die Stadt selbst auch für Bewohner und potenzielle Neubürger attraktiv zu machen.
Menschen mit Ideen und interessanten Projekten gibt es in der Stadt sicherlich nicht Wenige. Die Möglichkeiten, diese Ideen und Projekte unabhängig von Institutionen, Organisationen, Netzwerken und deren Gatekeepern ohne großen finanziellen Aufwand öffentlich zu präsentieren und umzusetzen sind jedoch beschränkt. Das Pop-up-Konzept von Thomas Welzel bietet eine solche Möglichkeit, die vor allem auch für unabhängige Kulturschaffende sehr interessant sein dürfte.

Tante Erma: Ermschwerder Straße 19, 37213 Witzenhausen.
Weitere Infos und Kontakt:
Thomas Welzel,  Mobile 0173-5286807

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