Tante Erma, der Ideenladen
Auf den ersten Blick ist Tante Erma einfach ein Laden in der
Ermschwerder Straße. Im Erdgeschoss eines Fachwerkhauses, klein, überschaubar
und erfreulicherweise nicht leerstehend, wie so viele Geschäfte in dieser Ecke
der Kirschenstadt. Hier, zwischen „Stadtring“ und Marktplatz präsentiert sich
die ländliche Universitätsstadt ein wenig morbide, ein scheinbar unvorteilhafter
Standort für einen Laden. Aber Tante Erma ist ein sogenannter Pop- up-Store. Dahinter
verbirgt sich ein Marketingkonzept, dass seinen Ursprung in Amerika hat und
seit rund einem Jahrzehnt auch in den großen Städten Deutschlands Fuß gefasst
hat. Thomas Welzel, Architekt und Eigentümer des 150 Jahre alten Fachwerkhauses
in dem sich die Ladenfläche befindet, hat nun das sogenannte
„Guerilla-Marketing“ mit einem an das Potenzial Witzenhausens angepassten
Konzept im Tante Erma Laden umgesetzt. Und dafür ist der etwas
heruntergekommene Teil der Ermschwerder Straße genau der richtige Ort.
Das Prinzip eines Pop-up-Stores ist einfach. Wer eine Geschäftsidee
hat, ein bestimmtes Sortiment vertreiben,
sein Hobby, seine Kunst oder ein besonderes Projekt präsentieren möchte,
kann den Laden für eine begrenzte Zeit mieten. Bei Tante Erma sind das zwischen
einer Woche und drei Monaten. Günstige Preise, kein kompliziertes Vertragswerk
mit Kündigungsfristen und Klauseln. Einfach rein in den mit flexiblen Regalen,
Licht und Werbemöglichkeiten professionell ausgestatteten 35 qm Laden, Idee
oder Produkte vorstellen und nach festgesetzter Zeit wieder raus. Das Ergebnis für den Mieter: Ein
Markttest unter realen Bedingungen oder einfach ein optimaler Verkaufserfolg.
Für Thomas Welzel bedeutet das Tante Erma Projekt wesentlich mehr als
nur die Möglichkeit, mit dem ansonsten leerstehenden Ladenlokal im Haus, das
mitten in der Sanierung steckt, ein paar Euro zu erwirtschaften. Denn der
Architekt und Ladenbauer aus Braunschweig, der Witzenhausen vor rund elf Jahren
ganz bewusst zu seiner Wahlheimat gemacht hat, sieht auch das
Entwicklungspotenzial hinsichtlich Lebensqualität, Wirtschaftskraft und
touristischer Attraktivität in Witzenhausen, das mit guten Ideen und intelligenter
- auch sozialer - Vernetzung aktiviert werden kann.
Locations für Besonderes
Die Idee des Pop-up-Stores entstand Ende der 1990er Jahre als vor allem
Klamottenlabels ihre Waren im Rahmen von Events in Los Angeles, New York oder
San Franzisco für wenige Tage oder Wochen in kurzfristig angemieteten Läden an
ausgefallenen Orten vertrieben. Durch die Kurzfristigkeit des Angebots und
geschickt gesteuertes Marketing mit gezielter Mund zu Mund Propaganda wurden
die Pop-up-Store zu Geheimtipps. Schneller profitabler Warenabsatz und ein
enormer Imagegewinn bei überschaubaren Kosten sind das Ergebnis dieses
Event-Marketing-Konzeptes. Kein Wunder, dass es inzwischen international
agierende Event-Agenturen gibt, die sich auf die Pop-up-Vermarktung
spezialisiert haben. Das beginnt mit der Auswahl des Ladens, seiner Einrichtung
geht über die Produktpräsentation, die Event-Organisation (Party, Musik,
Aufführungen, Catering etc.) bis hin zum Marketingkonzept. Alles aus einer
Hand. Besonders wichtig dabei: die Auswahl des Standortes. Heruntergekommene
Stadtviertel mit hohem Ladenleerstand sorgen nicht nur für niedrige Mietkosten,
sondern auch für ein ungewöhnliches Ambiente. Vor allem große Labels sind hier
die gern gesehenen Kunden.
Tante Erma auf Witzenhausen
maßgeschneidert
Das Prinzip Pop-up-Store hat natürlich auch weniger edle Seiten.
Allseits bekannt sind die zum Jahresende aufpoppenden Feuerwerksläden oder die
kurzfristige Belegung leerstehender Läden für Billigschuhverkäufe etc. . Diese
„Guerilla-Shops“, bei denen der schnelle Massenabsatz im Vordergrund steht,
füllen bestenfalls die Kassen der Vermieter und der Verkäufer, verbessern die
Attraktivität des betreffenden Stadtteils oder der jeweiligen Straße nicht
unbedingt. Die hochwertiger aufgezogenen Pop-ups in heruntergekommenen
Gegenden, können jedoch einen positiven Synergieeffekt haben. Leerstehende
Läden werden auch für andere Pop-ups interessant, Gastronomie und exklusiver
(damit ist nicht unbedingt hochpreisig gemeint!) Einzelhandel finden neue
Kundschaft, die Attraktivität des Quartiers steigt, Kultur kehrt zurück oder
entwickelt sich neu.
Tante Erma in der Ermschwerder Straße in Witzenhausen ist so ein
Pop-up-Projekt mit Synergiepotenzial. Denn hier lässt sich vieles ausprobieren.
Für Thomas Welzel ist Witzenhausen ohnehin ein großartiges Experimentierfeld.
Hier, so der Architekt, sei vieles möglich, was woanders kaum oder nur mit
großem Aufwand umsetzbar sei. Beispiele gibt es mit dem Weltladen des 1979
gegründeten Arbeitskreises Eine Welt e.V., dem Netzwerk Transition Witzenhausen
oder der Teilnahme an der Kampagne Fair Trade Town und anderen genug. Keine
Frage, vieles von dem, was sich in der Stadt bewegt, geht auf die Aktivitäten
und Ideen der rührigen Studentenschaft der Landwirtschaftsuni, aufgeschlossener
Bürger und Zugereister wie Welzel zurück, die zur unvergleichlichen Atmosphäre der Stadt
zwischen Traditionsbewusstsein, nordhessisch-ländlicher Beharrlichkeit,
Innovationsbereitschaft und Experimentierfreudigkeit beitragen. Auch Tante Erma
ist zunächst ein Experiment, das aber bereits seine Erfolge zu verzeichnen hat.
Hans Spinn beispielsweise, der in Tante Erma seine Idee vom Umsonstladen
ausprobiert hat, ist nun mit seinem Projekt der Brückenstraße zu finden.
Ein Konzept mit
Entwicklungspotenzial
Gestartet ist Tante Erma nach
aufwändiger Renovierung im September 2014 im Rahmen des Witzenhäuser
Kulturevents „TreppenKellerHinterhöfe“. Nora Barsch präsentierte hier ihre
Kunstwerke der Witzenhäuser Öffentlichkeit. Nora Wagner, folgte mit einem Beratungsladen
für Konflikte und Bauchgefühl und anschließend zeigte Petra Schemme-Bässe Schönes
aus Niestetal. Den Socken- und Flohmarktladen der Familie Lorenz beherbergte
Tante Erma ebenso wie
den oben angesprochenen Hans Spinn, eine Fairtrade-Ausstellung oder das
Stöberstübchen von Beate Ötzel. Energieberatung für Körper und Seele von Andrea
Pape oder die gemeinsame Präsentation von fünf Näherinnen aus der Region mit
ihren exklusiven Stücken rundeten bisher das Pop-up- Angebot im Laden in der
Ermschwerder ab. Auch wenn es mit der Familie Lorenz und Petra Schemme-Bässe
bereits 2015 Wiederholungstäter gab und die Witzenhäuser und die Gäste der
Stadt auch 2016 bei Tante Erma die fünf Näherinnen und Beate Ötzel mit dem
Stöberstübchen wieder treffen werden, die Möglichkeiten des Pop-up Lädchens
sind noch längst nicht ausgereizt. Denn Witzenhausen braucht nach wie vor neue
Ideen, um nicht nur Touristen anzuziehen, sondern die Stadt selbst auch für
Bewohner und potenzielle Neubürger attraktiv zu machen.
Menschen mit Ideen und interessanten Projekten gibt es in der Stadt
sicherlich nicht Wenige. Die Möglichkeiten, diese Ideen und Projekte unabhängig
von Institutionen, Organisationen, Netzwerken und deren Gatekeepern ohne großen
finanziellen Aufwand öffentlich zu präsentieren und umzusetzen sind jedoch
beschränkt. Das Pop-up-Konzept von Thomas Welzel bietet eine solche Möglichkeit,
die vor allem auch für unabhängige Kulturschaffende sehr interessant sein
dürfte.
Tante Erma: Ermschwerder Straße 19, 37213 Witzenhausen.
Weitere Infos und Kontakt:
Thomas Welzel, Mobile 0173-5286807
mail: laden@tante-erma.de
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