Dienstag, 5. Oktober 2010

Das verborgene Hessen

ein Freizeitführer für special interests


"Schräge Heimat", ein Ausflugsführer der anderen Art. "Skurrile, abseitige und bisweilen auch irritierende Sehenswürdigkeiten aus der Region (Hessen)" verspricht der Klappentext dem Leser und ein Blick in das Inhaltsverzeichnis läßt - wie das Kapitel "Verlorene Eier - Die Urologie in Gießen" - in der Tat 'Abgefahrenes' erwarten.


Ganz so  abgefahren und kurios geht es in „Schräge Heimat – Abgefahrene Sehenswürdigkeiten in Hessen“ dann doch nicht zu. Natürlich, im modernen Gebäude der Urologie Gießen auf die Station 20 zu fahren, um auf eine Ausstellung der besonderen Art zu stoßen, darauf muss man erst einmal kommen. Für den nicht-Mediziner  sind die Abbildungen und Exponate von historischen und modernen Penisprothesen oder Harnsteinen sicherlich nicht alltäglich, aber wie die Autoren bei der Vorstellung dieses Ausflugszieles indirekt andeuten: fachmedizinische Ausstellungen findet man naturgemäß in vielen Universitätskliniken.

Heimatmuseen, Kondome und Mäusefallen

Es sind oft eher Begriffe, Namen, Themen, die die insgesamt sehr interessanten Ausflugstipps auf den ersten Blick ein wenig skurril erscheinen lassen. Glücklicherweise werfen die Autoren der schrägen Heimat einen zweiten und dritten Blick auf die gelegentlich recht abgelegenen Sehenswürdigkeiten. Da findet sich beispielsweise das 50er-Jahre-Museum in Bündigen, das Tabakmuseum in Witzenhausen oder das Krippenmuseum in Großenlüder. Im Heimatmuseum in Bad König entdeckten die Autoren Kondomautomaten, Mäusefallen und anderes mehr. Gerade in den Heimatmuseen finden sich immer wieder scheinbar recht ungewöhnliche Exponate, schließlich wird hier meist die materielle Alltagskultur vergangener Zeiten präsentiert.
Tatsächlich ist der kleine Freizeitführer erfreulicherweise nicht auf skurrile Sensatiönchen um jeden Preis aus. Das zeigt sich schon an den zwar locker und humorig geschriebenen, trotzdem aber sehr sachlich-informativen Texten, bei denen es den Autoren Ute Friesen und Jan Thiemann gelingt, dem Leser die kulturgeschichtlichen Hintergründe selbst von Mausefallen zu vermitteln.

Ossi-Witze und Aufbau West

Der Leser merkt schnell, dass ‚abgefahren‘ und ‚schräg‘ nur wenig mit lächerlich und verrückt zu tun hat. Auch dann nicht, wenn sich Kaiser Wilhelm II im Schloss in Bad Homburg zum Telefonieren in einen Kleiderschrank einschließen musste. Natürlich gibt es auch wirklich abgefahrene Dinge zu besichtigen. Etwa das unkonventionelle Freilichtmuseum in der Rhön, dessen privater Betreiber unter anderem eine Art Grenzmuseum der besonderen Art führt, mit Ossi-Witzen und Spendenaufruf für den Aufbau West. Rund 60 mehr oder weniger ungewöhnliche Ziele beschreiben die beiden Autoren im Buch „Schräge Heimat“, Ausflugstipps finden sich deutlich mehr. Denn zu jeder Hauptattraktion – vom Galgen in Beerfelden über das Maislabyrinth in Groß-Umstadt bis zum Curioseum in Willingen-Usseln – finden sich neben den Basisinformationen wie Adresse, Öffnungszeiten und Anfahrt auch „Kuriositäten in der Nähe“. So wird bei der Stinksteinwand am Hohen Meißner beispielswiese auch auf die Kitzkammer und den Männerspielplatz Großalmerode hingewiesen. Beim „Grenzmuseum der besonderen Art“ erfährt der Leser, dass man in der Nähe einen Schäferwagen als Hotelzimmer mieten oder im Naturkundemuseum in Tann die Livecamübertragung aus den Turmfalkennestern der Stadtkirche betrachten kann.

Verborgene Schätze der Heimat

Alles in Allem ein wie die Autoren selbst formulieren sehr nützliches Zweitreisebuch, dass dem Urlauber oder Ausflügler die Möglichkeit bietet, dem Konsum offizieller touristischer  Kulturhighlights durch die verborgenen Schätze der Region eine besondere, individuelle Note zu verleihen. Die Behauptung, dass die „schrägen“ Sehenswürdigkeiten Hessens in noch keinem Reiseführer stehen, gilt allerdings nur mit Einschränkungen.
 
Ute Friesen, Jan Thiemann: Schräge Heimat, abgefahrene Sehenswürdigkeiten in Hessen. Theiss 2010. Taschenbuch, 144 Seiten.

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