Bereits auf
den Einführungsseiten des Buches wird deutlich, welchen tiefen Eindruck die Auseinandersetzung mit der Geschichte der Kolonialschule
Witzenhausen bei den studentischen Forschern und den Projektinitiatoren hinterlassen
hat. Und mit der doppelseitigen Mindmap zum Thema und der Überschrift zum
ersten Textbeitrag „Wir haben es unterschätzt“, wird zudem deutlich, wie
komplex und nachhaltig die Materie eigentlich ist. Trotzdem ist ein
einzigartiges dokumentarisches, emotionales und historisch wertvolles Werk
entstanden, das den aufgeschlossenen Leser/Betrachter sofort in seinen Bann
zieht.
Trotz Überforderung ein grandioses Ergebnis
Es war
sicherlich nicht nur die Fülle des Materials, die in den Archiven der ehemaligen
Kolonialschule lagern, die bei den Studenten der Fachbereiche Geschichte und
Agrarwissenschaften der Universität Kassel und der Klasse Illustration und Comic
der Kunsthochschule Kassel zum Gefühl führten, an der selbstgestellten Aufgabe
zu scheitern. Es waren auch die Informationslücken und die Art des bisherigen
Umgangs mit den Dokumenten der Vergangenheit und damit wohl auch dem Verhältnis
der Institution und der Stadt zu seiner eigenen Geschichte. Die Beschäftigung
vor allem mit den Hinterlassenschaften der Menschen, Bilder, Briefe, Erzählungen,
Überlieferungen führte schließlich mit RAUS REIN zu einer Umsetzung der
gewonnenen Eindrücke und Erkenntnisse, die berührender, informativer und empathischer
ist, als es wissenschaftliche Berichte je sein können und dürfen.
Die Kunst der realen Fiktion
Das Buch RAUS REIN beinhaltet unglaublich viel Information, Stoff zur Erkenntnis und zum
Nachdenken. Das ist vor allem der außerordentlich kreativen Vermittlung des
Arbeits- und Denkprozesses der Autoren zu verdanken. Comics unterschiedlicher
Stilrichtung vermitteln einen Eindruck in die Gedanken- und Lebenswelt
deutschen Kolonialismus, die bis in die jüngste Vergangenheit hineinreicht. Da
ist als Beispiel die real/fiktive Lebensgeschichte des schwarzen Dieners an der
Kolonialschule, Franz Seeleman zu nennen, von dem kaum mehr überliefert ist als
seine kärgliche Hinterlassenschaft, als er 1940 im Witzenhäuser Krankenhaus
starb. Oder der Comic „episödchen“, der auf den Erzählungen des ehemaligen
Schülers Hanns Bagdahns (Mein Leben, Selbstverlag 2003, Witzenhausen) basiert
und überwiegend mit Originalzitaten versehen ist.
Auseinandersetzung statt ideologische Scheuklappen
Im Textteil finden
sich ebenfalls fiktive Dokumente auf der Basis von Originalzitaten. Besonders
gelungen, die fiktiven Zeitungsartikel des Werratalanzeigers und des
Kolonialkuriers anlässlich der Einweihung der Deutschen Kolonialschule im Mai
1899. Auch die Auseinandersetzung mit dem Gründungsdirektor der Schule, Ernst
Albert Fabarius, dessen Büste im Innenhof des alten Klostergebäudes steht,
hinterlässt beim Betrachter/Leser Eindruck. Auch hier werden keine vorgefassten
Meinungen als Fakten präsentiert, sondern die geistige Auseinandersetzung
visuell und redaktionell vermittelt. Diese Auseinandersetzung mit der Thematik
zieht sich wie eine rote Linie durch das Buch. Dabei ist das Werk – trotz des
düsteren Themas - nicht nur optisch erfrischend, sondern trotz aller sichtbaren
Emotionalität und Empathie nicht moralisierend.
Ein gelungener Versuch
Inhaltlich
vielschichtig, didaktisch ansprechend und hochinformativ ist das Buch nicht nur
ein Muss für Witzenhäuser oder nordhessische Lokalpatrioten. Denn es behandelt
weit mehr als Regionalgeschichte und zeigt zudem eine probate Möglichkeit, wie
man sich auch als junger Mensch dem Thema Geschichte nähern kann.
Lesen Sie auch den Kommentar zum Thema
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen