Dienstag, 21. Juni 2016

RAUS REIN

Texte und Comics zur Geschichte der ehemaligen Kolonialschule in Witzenhausen

Bereits auf den Einführungsseiten des Buches wird deutlich, welchen tiefen Eindruck die Auseinandersetzung mit der Geschichte der Kolonialschule Witzenhausen bei den studentischen Forschern und den Projektinitiatoren hinterlassen hat. Und mit der doppelseitigen Mindmap zum Thema und der Überschrift zum ersten Textbeitrag „Wir haben es unterschätzt“, wird zudem deutlich, wie komplex und nachhaltig die Materie eigentlich ist. Trotzdem ist ein einzigartiges dokumentarisches, emotionales und historisch wertvolles Werk entstanden, das den aufgeschlossenen Leser/Betrachter sofort in seinen Bann zieht.


Trotz Überforderung ein grandioses Ergebnis

Es war sicherlich nicht nur die Fülle des Materials, die in den Archiven der ehemaligen Kolonialschule lagern, die bei den Studenten der Fachbereiche Geschichte und Agrarwissenschaften der Universität Kassel und der Klasse Illustration und Comic der Kunsthochschule Kassel zum Gefühl führten, an der selbstgestellten Aufgabe zu scheitern. Es waren auch die Informationslücken und die Art des bisherigen Umgangs mit den Dokumenten der Vergangenheit und damit wohl auch dem Verhältnis der Institution und der Stadt zu seiner eigenen Geschichte. Die Beschäftigung vor allem mit den Hinterlassenschaften der Menschen, Bilder, Briefe, Erzählungen, Überlieferungen führte schließlich mit RAUS REIN zu einer Umsetzung der gewonnenen Eindrücke und Erkenntnisse, die berührender, informativer und empathischer ist, als es wissenschaftliche Berichte je sein können und dürfen.

Die Kunst der realen Fiktion

Das Buch RAUS REIN beinhaltet unglaublich viel Information, Stoff zur Erkenntnis und zum Nachdenken. Das ist vor allem der außerordentlich kreativen Vermittlung des Arbeits- und Denkprozesses der Autoren zu verdanken. Comics unterschiedlicher Stilrichtung vermitteln einen Eindruck in die Gedanken- und Lebenswelt deutschen Kolonialismus, die bis in die jüngste Vergangenheit hineinreicht. Da ist als Beispiel die real/fiktive Lebensgeschichte des schwarzen Dieners an der Kolonialschule, Franz Seeleman zu nennen, von dem kaum mehr überliefert ist als seine kärgliche Hinterlassenschaft, als er 1940 im Witzenhäuser Krankenhaus starb. Oder der Comic „episödchen“, der auf den Erzählungen des ehemaligen Schülers Hanns Bagdahns (Mein Leben, Selbstverlag 2003, Witzenhausen) basiert und überwiegend mit Originalzitaten versehen ist.

Auseinandersetzung statt ideologische Scheuklappen

Im Textteil finden sich ebenfalls fiktive Dokumente auf der Basis von Originalzitaten. Besonders gelungen, die fiktiven Zeitungsartikel des Werratalanzeigers und des Kolonialkuriers anlässlich der Einweihung der Deutschen Kolonialschule im Mai 1899. Auch die Auseinandersetzung mit dem Gründungsdirektor der Schule, Ernst Albert Fabarius, dessen Büste im Innenhof des alten Klostergebäudes steht, hinterlässt beim Betrachter/Leser Eindruck. Auch hier werden keine vorgefassten Meinungen als Fakten präsentiert, sondern die geistige Auseinandersetzung visuell und redaktionell vermittelt. Diese Auseinandersetzung mit der Thematik zieht sich wie eine rote Linie durch das Buch. Dabei ist das Werk – trotz des düsteren Themas - nicht nur optisch erfrischend, sondern trotz aller sichtbaren Emotionalität und Empathie nicht moralisierend.

Ein gelungener Versuch

Inhaltlich vielschichtig, didaktisch ansprechend und hochinformativ ist das Buch nicht nur ein Muss für Witzenhäuser oder nordhessische Lokalpatrioten. Denn es behandelt weit mehr als Regionalgeschichte und zeigt zudem eine probate Möglichkeit, wie man sich auch als junger Mensch dem Thema Geschichte nähern kann.

Dr. Marion Hulverscheidt, Prof. Hendrik Dogarthen: RAUS REIN. Texte und Comics zur Geschichte der ehemaligen Kolonialschule in Witzenhausen. Avant-verlag 2016. Paperback, 173 Seiten.

Lesen Sie auch den Kommentar zum Thema

Keine Kommentare: