oder die Geheimnisse der unsichtbaren Bäche
Nordöstlich des Eisbergs entspringt der Vockebach, der sich –ein Rinnsaal nur- an Reichenbach vorbeischlängelt, Wickersrode passiert, Vockerode- Dinkelbach durchfließt und schließlich in die Pfieffe mündet. Keine Chance hat dieser Bach, auf seinem kurzen Weg jemals ein Fluss zu werden. Kein Gewässer also, über das man Gedichte schreibt oder Lieder singt, an dessen Ufern seit Jahrhunderten wohlhabende Handelsstädte blühen, kein Strom, der mächtige Sagen gebiert oder als Wiege der Kultur gerühmt wird.
Nein, der Vockebach von zahlreichen aus den Höhenzügen plätschernden Wasseräderchen gespeist, schlängelt sich wie seine zahllosen Kollegen nahezu unbemerkt und ungeachtet von den Menschen, die nur Großes zu sehen in der Lage sind, durch sein verhältnismäßig breites Tal. Einzig die Baumreihen, die sich über dem Gestrüpp erheben, das die Felder der Bauern trennt und die sich wie eine Markierung in Schlangenlinie die Talsohle entlangziehen, verraten den kleinen, vom Wege aus unsichtbaren Bach, der gelegentlich auch durch sein plätschern und Gurgeln auf sich aufmerksam macht.
Kaum jemand schenkt dem schmächtigen Gewässer Aufmerksamkeit, warum auch. Im Sommer, wenn es heiß ist, kann man das Schwirren und Summen des Stechgeziefers schon aus einiger Entfernung vernehmen, keine Einladung zum Besuch der schattigen, kühlen Baumreihen. Zum Angeln ist das Bächlein viel zu klein, und bevor man es erreicht hat, haben einen die wehrhaften Kräuter und Sträucher des bachnahen Dickichts schon wieder in die Flucht geschlagen.
Aber es wird auch Herbst. Die Felder sind gemäht und der Blick auf den Streifen Wildnis, der sich mitten durch das Tal zieht, wird ein wenig klarer. Die meisten Menschen beachten das unsichtbare Bächlein immer noch nicht. Wer sich aber dem nun sichtbaren bunten Blüten und Blättermeer, das am Bach zwischen den Bäumen in der tiefstehenden Sonne leuchtet und funkelt, neugierig nähert, gerät Schritt für Schritt in eine andere Welt. Welch eine Vielfalt, welch eine Lebenskraft, die das unscheinbare Bächlein, das sich an nur wenigen Stellen nun dem Auge enthüllt, an seinen Ufern hervorzubringen in der Lage ist. Es tränkt die hohen, weitverzweigten Bäume, die sich den schmalen Streifen des von den Bauern unkultivierten Landes mit wucherndem Grünzeug und verwegenen Kletterpflanzen teilen und das lebensspendende Rinnsal nicht nur seit der Sommerzeit vor aufdringlichen Blicken, sondern auch vor dem unerbittlichen Durst der Sonne schützen.
Und nahe am Bach wird ebenfalls deutlich: Es ist gar kein schmaler Streifen mehr, war es noch nie. Da offenbaren sich sonnenüberflutete Wiesenflecken, die zwischen Bachverzweigungen und an Zuläufen oder zwischen Bach und nahegelegenem Waldrand Rehen das weitestgehend ungestörte Äsen erlauben. Die kleinen aber feinen Oasen mitten in der bäuerlichen Kulturlandschaft bilden eine eigene, verborgene Welt, beinahe noch ungestörter als in den großen Wäldern der umliegenden Höhenzüge.
Und wer an seine Sommerspaziergänge zurückdenkt, der wird sich erinnern: da war doch immer der rotbeinige, gelbschnabelige Schwarzstorch, der ebenso wie der graue Fischreiher auf leisen Flügeln am Bachsaum entlanggeglitten war oder regungslos in den umliegenden Wiesen gestanden hatte.
Mehr als jeder Fluss, jeder Strom zeigen die unzähligen kleinen Bäche und Rinnsale, welche Lebenskraft im Wasser steckt. Man bedenke, wie viel Pflanzen, Tieren und Menschen von den bescheiden dahinplätschernden Bächlein leben. Und man vergesse nicht, dass so mancher kleine Bach zudem in der Vergangenheit zahlreiche Mühlräder angetrieben um die unersättlichen Menschen mit Energie zu versorgen, bevor er am Ende, vereint mit seinen zahllosen Geschwistern die großen, vielbesungenen und vielbeachteten Ströme mit seinem Wassern speist.
Fotos: Wolfgang Schwerdt
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