Pferde, das sind keine normalen Tiere, wie ihr vielleicht
annehmt. Denn Pferde können Gedanken lesen und sie können Dinge sehen, die es
in eurer Welt gar nicht mehr gibt.
Was ich damit meine? Nun, ich rede von Geistern, Kobolden,
alten Göttern.
Ja, ja, ich sehe schon, ihr wollt nicht mehr daran glauben.
Aber es gibt eben nicht nur eure Welt. Natürlich, die Pferde stehen auf der
Weide oder im Stall und fressen und ihr könnt sie auch reiten und anfassen.
Aber habt ihr euch mal überlegt, was sie eigentlich tun, wenn sie so dastehen
und scheinbar dösen und die Ohren hin und her drehen, als ob sie Stimmen hören?
Oder warum sie plötzlich scheinbar ohne Anlass buckeln und beim Reiten eben
nicht mehr machen, was ihr wollt? Ich will es euch sagen: sie sind dann in
einer anderen Welt, in der Welt, aus der sie eigentlich kommen und in die sie
eigentlich gehören.
Als vorhin dein Pferd plötzlich stehengeblieben ist und
einfach nicht mehr weiter wollte – erinnerst du dich? Da hatte sich ein Baumgeist
– einer von denen, die mit dem Häcksel aus dem Wald in die Reithalle gebracht
worden waren – vor das Pferd gestellt und von ihm verlangt, dass es ihn in der
Nacht zurückbringen soll. Geister und Kobolde sind überall und wenn ein Pferd
plötzlich scheut, dann ist da bestimmt ein Wesen aus der anderen Welt, das sich
einen Spaß daraus macht, es zu erschrecken. Nachts, wenn die Menschen schlafen
und die Pferde ungestört sind, dann kehren sie zurück in ihre eigentliche Welt. Dann tragen sie die wilde Holle mit ihrem Gefolge durch die Lüfte, jagen mit
den Geistern über die Auen, durch die Wälder und Berge und tragen gelegentlich
die Götter in die Schlachten, vor deren Stürmen, Donner und Blitzen ihr euch
unter eure Bettdecken verkriecht.
Eine solche Nacht war es, in der vor langer Zeit ein kleines
Mädchen unter seiner Bettdecke lag und vor Angst zitterte. Die wilde Jagd fegte
über den Himmel und die Holle legte mit ihren Stürmen so manchen Baum um und es
krachte und donnerte, wenn die Geister, angeführt vom wilden Wotan auf ihren
grauen Hengsten über das Land jagten. Die schwere Stalltür stöhnte und
kreischte in ihren Angeln und die Pferde im Stall wieherten und galoppierten
hin und her. Dann schlugen die Fenster des Schlafzimmers auf und die Scheiben
klirrten. Ein eiskalter Wind strich durch den Raum und das kleine Mädchen
wollte fast vergehen vor Angst.
Als sich der Sturm gelegt zu haben schien und es ganz ruhig
im Zimmer geworden war, lugte es zitternd unter der Bettdecke hervor. Mitten im
Raum stand plötzlich ihr kleines weißes Pony, silbrig glänzend wie vom
Mondlicht beschienen. Draußen, das wusste das Mädchen, ging die wilde Jagd
weiter, aber hier im Zimmer war alles ganz friedlich, als sei es eine andere
Welt.
„Hab keine Angst, kleines Mädchen“, flüsterte das Pony und
schnabbelte mit seinen weichen Lippen an ihrem Haar.
Die Augen des Mädchens weiteten sich: „seit wann kannst du
sprechen?“ wunderte es sich.
„Schon immer“, erwiderte das Pony sanft, „nur leider hast du
mich nie verstanden.“
„Aber du bist doch nur ein Pony“, sagte das Mädchen und
dachte daran, wie widerspenstig es war, wenn es zum Reiten von der Weide geholt
werden sollte. Oder wie es beim Führen immer wieder eine andere Richtung
einschlagen wollte, als das Mädchen und wie schwer es war, das Pony davon zu
überzeugen, die Hufe zu geben. Es schien gar nichts zu verstehen und eben
einfach nur ein eigensinniges kleines Pferd zu sein.
„Komm“, sagte das Pony und schien dabei fast zu lächeln,
„komm, ich zeige dir etwas, komm, steig einfach auf.“
Das Mädchen schwang sich auf den Rücken des kleinen Pferdes
und ehe es sich versah, war das Pony durch das Fenster gesprungen und in
großem, weitem Galopp mitten durch die wilde Jagd gen Himmel gestürmt. Es
schien, als habe das Pony Flügel und das Mädchen, das sich krampfhaft an der
Mähne des weißen Pferdchens festhielt, konnte bald schon seinen Hof tief unten
zwischen den dunklen Wolken erkennen. Und auch die Wilde Jagd mit den Geistern
auf den grauen Pferden und dem donnernden und blitzenden Wotan sauste bereits weit
unter ihnen über das Land. Höher und höher stieg das Pony und die Bewegungen
wurden immer weicher. Wie eine kleine Wolke trieben die beiden über das Land,
über Berge, Täler und Flüsse, bis sich das kleine weiße Pferd auf einer
scheinbar aus dem Nichts aufgetauchten saftigen sonnenbeschienenen Wiese
niederließ und einfach anfing, genüsslich zu grasen.
Das kleine Mädchen war vom Pferd gestiegen und schaute sich
verwundert um. Die Wiese wimmelte nur so von kleinen Wesen, die da tanzten und
tollten. Ab und zu sprang ein winziger Kobold plötzlich mit ausgebreiteten
Armen aus dem Gras hervor, sodass das Pony erschrocken den Kopf herumwarf, ein
paar Schritte zur Seite sprang und drohend mit dem Vorderhuf scharrte, während
der Kobold wieder kichernd im Gras verschwand. Viele andere Pferde standen
ebenfalls hier und das Mädchen erkannte viele von ihnen als die Rösser, die bei
der Wilden Jagd über das Land getobt waren. Und selbst die Pferde des Hofes auf
dem sie wohnte, knabberten auf dieser unwirklich erscheinenden Wiese im
Nirgendwo an dem saftigen Gras. In der Ferne, da stand ein uralt anmutendes mächtiges
Gebäude, einem Felsenschloss gleich und Leute gingen dort ein und aus.
„Geh ruhig hin“, sagte das Pony, während es weiter an den
saftigen Gräsern zupfte.
Das Mädchen fasste sich ein Herz und ging auf das Schloss
zu. Und je näher es kam, desto seltsamer wirkten die Leute auf sie. Sie waren
in wie aus Licht gewobene Gewänder gehüllt und obwohl sie miteinander sprachen,
konnte das Mädchen keines ihrer Worte verstehen, denn es war still. Auch die
Gesichter der Leute waren irgendwie anders. Einige hatten spitze Ohren oder
kleine Hörner, große Nasen oder schrumpelige Gesichter mit riesigen Augen aber es
waren auch wunderschöne Wesen darunter, ein wahres Märchenvolk, das sich hier
herumtrieb und keinerlei Notiz von dem Mädchen nahm.
Längst hatte das Mädchen das Schloss betreten und
irgendwann war sie ganz alleine. Vor ihr
öffnete sich eine Halle, eher ein riesiger Raum der weder richtige Wände noch
eine Decke erkennen ließ. Stattdessen wurde er scheinbar durch sich endlos
auftürmende Wolken begrenzt und statt der Decke erstreckte sich ein tiefblauer
Himmel mit funkelnden Sternen und einem hellen vollen Mond über den Wolken. Wie
aus einer Nebelbank trippelte plötzlich das kleine weiße Pony hervor und
verwandelte sich vor den Augen des Mädchens in eine wunderschöne weißgewandete
Frau mit langen blonden Haaren.
„Willkommen im Reich der Holle“, sagte die weiße Frau
freundlich, „schön, dass du meiner Einladung gefolgt bist.“
„Aber das Pony . . .“, stammelte das Mädchen.
„Ich kann viele Gestalten annehmen und das Pony ist mein
Lieblingspferd, ich reite es immer bei der wilden Jagd. Aber heute habe ich es
dir ausgeliehen, damit du mich besuchen kannst.“
„Aber das Pony gehört doch mir“, erwiderte das Mädchen
trotzig.
„Wirklich?“ lächelte die Holle. „Na ja, die Menschen glauben
immer, ihnen gehöre alles: die Tiere, das Land, die Wälder, die Gewässer,
andere Menschen, einfach alles. Aber all das gehört uns und zu unserer Welt. Und
während wir erlauben euch, das zu nutzen, versucht ihr einfach nur, es uns zu
rauben. Wenn du wirklich glaubst, das Pony gehöre dir, warum kannst du dann
seine Sprache nicht verstehen, warum kannst du seine Sprache nicht sprechen und
warum gehorcht es dir nicht?“
„Aber Ponys können
doch gar nicht sprechen“, das Mädchen blickte die weiße Frau
verunsichert an.
„Nun, vielleicht nicht so wie Menschen. Aber wenn du genau
hinsiehst und beobachtest, solltest du erkennen, dass die Pferde ständig mit
euch und auch untereinander reden. Und wenn du wirklich willst, kannst du auch
mit den Pferden reden. Du musst nur deutlich sagen, was du willst, so dass es
die Pferde auch verstehen können.“
„Das mach ich doch, aber das Pony ist einfach
widerspenstig“, maulte das Mädchen.
Aber die Holle lächelte nur: „Es sind nicht die
Menschenworte, die wichtig sind, denn die Pferde sind eben nicht von deiner,
sondern von meiner Welt. Es geht um die Sprache unserer Welt, kleine Zeichen,
die Melodie der Stimme, eine Bewegung nur, dein Wille, dein Respekt, all diese
Dinge, die der Worte nicht bedürfen.“
Noch bevor das Mädchen darüber nachdenken konnte, streckte
die Holle ihre Hand aus und berührte sanft die Stirn des Mädchens, das sofort
in einen tiefen, traumlosen Schlaf fiel. Als es aufwachte, war die wilde Jagd
längst vorübergezogen und die Sonne sandte bereits ihre wärmenden Strahlen auf
die Erde. Das Mädchen stand sofort auf, warf sich in seine Sachen und rannte
auf die Weide. Inmitten der Herde stand das kleine weiße Pony und hob wiehernd
seinen Kopf. Langsam, ein wenig unsicher, das Pony aufmerksam betrachtend, ging
das Mädchen auf das Pferd zu.
„Na komm schon“, schien das Pony zu sagen und blickte das
Mädchen mit seinen großen dunklen Augen an, „lass uns miteinander reden.“
Fotos und Text ©Wolfgang Schwerdt
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