Dienstag, 20. August 2013

Die Pferde der wilden Holl



Pferde, das sind keine normalen Tiere, wie ihr vielleicht annehmt. Denn Pferde können Gedanken lesen und sie können Dinge sehen, die es in eurer Welt gar nicht mehr gibt.
Was ich damit meine? Nun, ich rede von Geistern, Kobolden, alten Göttern.

Ja, ja, ich sehe schon, ihr wollt nicht mehr daran glauben. Aber es gibt eben nicht nur eure Welt. Natürlich, die Pferde stehen auf der Weide oder im Stall und fressen und ihr könnt sie auch reiten und anfassen. Aber habt ihr euch mal überlegt, was sie eigentlich tun, wenn sie so dastehen und scheinbar dösen und die Ohren hin und her drehen, als ob sie Stimmen hören? Oder warum sie plötzlich scheinbar ohne Anlass buckeln und beim Reiten eben nicht mehr machen, was ihr wollt? Ich will es euch sagen: sie sind dann in einer anderen Welt, in der Welt, aus der sie eigentlich kommen und in die sie eigentlich gehören.

Als vorhin dein Pferd plötzlich stehengeblieben ist und einfach nicht mehr weiter wollte – erinnerst du dich? Da hatte sich ein Baumgeist – einer von denen, die mit dem Häcksel aus dem Wald in die Reithalle gebracht worden waren – vor das Pferd gestellt und von ihm verlangt, dass es ihn in der Nacht zurückbringen soll. Geister und Kobolde sind überall und wenn ein Pferd plötzlich scheut, dann ist da bestimmt ein Wesen aus der anderen Welt, das sich einen Spaß daraus macht, es zu erschrecken. Nachts, wenn die Menschen schlafen und die Pferde ungestört sind, dann kehren sie zurück in ihre eigentliche Welt. Dann tragen sie die wilde Holle mit ihrem Gefolge durch die Lüfte, jagen mit den Geistern über die Auen, durch die Wälder und Berge und tragen gelegentlich die Götter in die Schlachten, vor deren Stürmen, Donner und Blitzen ihr euch unter eure Bettdecken verkriecht.

Eine solche Nacht war es, in der vor langer Zeit ein kleines Mädchen unter seiner Bettdecke lag und vor Angst zitterte. Die wilde Jagd fegte über den Himmel und die Holle legte mit ihren Stürmen so manchen Baum um und es krachte und donnerte, wenn die Geister, angeführt vom wilden Wotan auf ihren grauen Hengsten über das Land jagten. Die schwere Stalltür stöhnte und kreischte in ihren Angeln und die Pferde im Stall wieherten und galoppierten hin und her. Dann schlugen die Fenster des Schlafzimmers auf und die Scheiben klirrten. Ein eiskalter Wind strich durch den Raum und das kleine Mädchen wollte fast vergehen vor Angst.
Als sich der Sturm gelegt zu haben schien und es ganz ruhig im Zimmer geworden war, lugte es zitternd unter der Bettdecke hervor. Mitten im Raum stand plötzlich ihr kleines weißes Pony, silbrig glänzend wie vom Mondlicht beschienen. Draußen, das wusste das Mädchen, ging die wilde Jagd weiter, aber hier im Zimmer war alles ganz friedlich, als sei es eine andere Welt.

„Hab keine Angst, kleines Mädchen“, flüsterte das Pony und schnabbelte mit seinen weichen Lippen an ihrem Haar.

Die Augen des Mädchens weiteten sich: „seit wann kannst du sprechen?“ wunderte es sich.

„Schon immer“, erwiderte das Pony sanft, „nur leider hast du mich nie verstanden.“

„Aber du bist doch nur ein Pony“, sagte das Mädchen und dachte daran, wie widerspenstig es war, wenn es zum Reiten von der Weide geholt werden sollte. Oder wie es beim Führen immer wieder eine andere Richtung einschlagen wollte, als das Mädchen und wie schwer es war, das Pony davon zu überzeugen, die Hufe zu geben. Es schien gar nichts zu verstehen und eben einfach nur ein eigensinniges kleines Pferd zu sein.

„Komm“, sagte das Pony und schien dabei fast zu lächeln, „komm, ich zeige dir etwas, komm, steig einfach auf.“

Das Mädchen schwang sich auf den Rücken des kleinen Pferdes und ehe es sich versah, war das Pony durch das Fenster gesprungen und in großem, weitem Galopp mitten durch die wilde Jagd gen Himmel gestürmt. Es schien, als habe das Pony Flügel und das Mädchen, das sich krampfhaft an der Mähne des weißen Pferdchens festhielt, konnte bald schon seinen Hof tief unten zwischen den dunklen Wolken erkennen. Und auch die Wilde Jagd mit den Geistern auf den grauen Pferden und dem donnernden und blitzenden Wotan sauste bereits weit unter ihnen über das Land. Höher und höher stieg das Pony und die Bewegungen wurden immer weicher. Wie eine kleine Wolke trieben die beiden über das Land, über Berge, Täler und Flüsse, bis sich das kleine weiße Pferd auf einer scheinbar aus dem Nichts aufgetauchten saftigen sonnenbeschienenen Wiese niederließ und einfach anfing, genüsslich zu grasen.
Das kleine Mädchen war vom Pferd gestiegen und schaute sich verwundert um. Die Wiese wimmelte nur so von kleinen Wesen, die da tanzten und tollten. Ab und zu sprang ein winziger Kobold plötzlich mit ausgebreiteten Armen aus dem Gras hervor, sodass das Pony erschrocken den Kopf herumwarf, ein paar Schritte zur Seite sprang und drohend mit dem Vorderhuf scharrte, während der Kobold wieder kichernd im Gras verschwand. Viele andere Pferde standen ebenfalls hier und das Mädchen erkannte viele von ihnen als die Rösser, die bei der Wilden Jagd über das Land getobt waren. Und selbst die Pferde des Hofes auf dem sie wohnte, knabberten auf dieser unwirklich erscheinenden Wiese im Nirgendwo an dem saftigen Gras. In der Ferne, da stand ein uralt anmutendes mächtiges Gebäude, einem Felsenschloss gleich und Leute gingen dort ein und aus.

„Geh ruhig hin“, sagte das Pony, während es weiter an den saftigen Gräsern zupfte.

Das Mädchen fasste sich ein Herz und ging auf das Schloss zu. Und je näher es kam, desto seltsamer wirkten die Leute auf sie. Sie waren in wie aus Licht gewobene Gewänder gehüllt und obwohl sie miteinander sprachen, konnte das Mädchen keines ihrer Worte verstehen, denn es war still. Auch die Gesichter der Leute waren irgendwie anders. Einige hatten spitze Ohren oder kleine Hörner, große Nasen oder schrumpelige Gesichter mit riesigen Augen aber es waren auch wunderschöne Wesen darunter, ein wahres Märchenvolk, das sich hier herumtrieb und keinerlei Notiz von dem Mädchen nahm.
Längst hatte das Mädchen das Schloss betreten und irgendwann  war sie ganz alleine. Vor ihr öffnete sich eine Halle, eher ein riesiger Raum der weder richtige Wände noch eine Decke erkennen ließ. Stattdessen wurde er scheinbar durch sich endlos auftürmende Wolken begrenzt und statt der Decke erstreckte sich ein tiefblauer Himmel mit funkelnden Sternen und einem hellen vollen Mond über den Wolken. Wie aus einer Nebelbank trippelte plötzlich das kleine weiße Pony hervor und verwandelte sich vor den Augen des Mädchens in eine wunderschöne weißgewandete Frau mit langen blonden Haaren.

„Willkommen im Reich der Holle“, sagte die weiße Frau freundlich, „schön, dass du meiner Einladung gefolgt bist.“

„Aber das Pony . . .“, stammelte das Mädchen.

„Ich kann viele Gestalten annehmen und das Pony ist mein Lieblingspferd, ich reite es immer bei der wilden Jagd. Aber heute habe ich es dir ausgeliehen, damit du mich besuchen kannst.“

„Aber das Pony gehört doch mir“, erwiderte das Mädchen trotzig.

„Wirklich?“ lächelte die Holle. „Na ja, die Menschen glauben immer, ihnen gehöre alles: die Tiere, das Land, die Wälder, die Gewässer, andere Menschen, einfach alles. Aber all das gehört uns und zu unserer Welt. Und während wir erlauben euch, das zu nutzen, versucht ihr einfach nur, es uns zu rauben. Wenn du wirklich glaubst, das Pony gehöre dir, warum kannst du dann seine Sprache nicht verstehen, warum kannst du seine Sprache nicht sprechen und warum gehorcht es dir nicht?“

„Aber Ponys können  doch gar nicht sprechen“, das Mädchen blickte die weiße Frau verunsichert an.

„Nun, vielleicht nicht so wie Menschen. Aber wenn du genau hinsiehst und beobachtest, solltest du erkennen, dass die Pferde ständig mit euch und auch untereinander reden. Und wenn du wirklich willst, kannst du auch mit den Pferden reden. Du musst nur deutlich sagen, was du willst, so dass es die Pferde auch verstehen können.“

„Das mach ich doch, aber das Pony ist einfach widerspenstig“, maulte das Mädchen.

Aber die Holle lächelte nur: „Es sind nicht die Menschenworte, die wichtig sind, denn die Pferde sind eben nicht von deiner, sondern von meiner Welt. Es geht um die Sprache unserer Welt, kleine Zeichen, die Melodie der Stimme, eine Bewegung nur, dein Wille, dein Respekt, all diese Dinge, die der Worte nicht bedürfen.“

Noch bevor das Mädchen darüber nachdenken konnte, streckte die Holle ihre Hand aus und berührte sanft die Stirn des Mädchens, das sofort in einen tiefen, traumlosen Schlaf fiel. Als es aufwachte, war die wilde Jagd längst vorübergezogen und die Sonne sandte bereits ihre wärmenden Strahlen auf die Erde. Das Mädchen stand sofort auf, warf sich in seine Sachen und rannte auf die Weide. Inmitten der Herde stand das kleine weiße Pony und hob wiehernd seinen Kopf. Langsam, ein wenig unsicher, das Pony aufmerksam betrachtend, ging das Mädchen auf das Pferd zu.

„Na komm schon“, schien das Pony zu sagen und blickte das Mädchen mit seinen großen dunklen Augen an, „lass uns miteinander reden.“

Fotos und Text ©Wolfgang Schwerdt

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